Von Dragoslav Dedović, Leiter des Südosteuropa-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Belgrad, Serbien
Der Wahlkampf in Serbien zeigt: Für den national-konservativen Ministerpräsidenten Koštunica ist das Kosovo wichtiger als die europäische Zukunft Serbiens. Er kündigte an, das in Brüssel Ende April unterzeichnete Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) nach den Wahlen für nichtig erklären zu wollen. Das Brüsseler Abkommen sei ein Betrug mit dem Ziel, die Abtrennung des Kosovo zu legitimieren. Der Radikalenführer Tomislav Nikolić bezichtigte den Staatspräsidenten Boris Tadić wegen seiner Unterschrift unter den SAA sogar des Verrats. Der serbische Präsident erhielt anonyme Morddrohungen, die sein Sicherheitsdienst ernst nimmt.
Ursprünglich hätten am 11. Mai nur die Kommunalwahlen und die Wahlen für das Provinzparlament in der Vojvodina, einer autonomen Provinz in der Republik Serbien, stattfinden sollen. Es ging dabei um die Frage, inwieweit sich der Trend zur Verdrängung der kleineren Bürgerinitiativen und Parteien durch die größeren Parteien und Koalitionen fortsetzt. Gelingt es der Liberal-demokratischen Partei (LDP) - die zum ersten Mal seit ihrer Gründung 2005 bei den Kommunalwahlen aufgestellt ist – die notwendige Zahl der Mandate in den Städten und Gemeinden zu bekommen? Wird es endlich grüne Gemeinderäte von der - durch die Heinrich-Böll-Stiftung initiierte - „Grünen Liste“ in Serbien geben?
All diese Fragen werden jetzt in der Öffentlichkeit als zweitrangig wahrgenommen, denn am gleichen Tag finden die vorgezogenen Parlamentswahlen statt. Sogar der Chef der Serbischen Radikalen Partei, Vojislav Šešelj, dessen Kriegsverbrecherprozess in Den Haag gerade läuft, verkündete in seiner Wahlbotschaft an die Parteimitglieder, dass diese Wahlen die wichtigsten seien seit der Wiedereinführung des Parlamentarismus in Serbien. Warum so dramatisch?
Kleinster gemeinsamer Nenner ist die Kosovo-Frustration
Zur Erinnerung: Zu den vorgezogenen Parlamentswahlen kam es, weil die Koalition zwischen Regierungschef Vojislav Koštunica und Staatspräsident Boris Tadić seit den Präsidentschaftswahlen und der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo (beides im Februar) so gut wie handlungsunfähig war. Der Grund: Tadić weigerte sich – wie von Koštunicas Demokratischer Partei Serbiens (DSS) und der Serbischen Radikalen Partei (SRS) ultimativ verlangt - die EU-Annährung seines Landes und den politischen Kampf gegen die Kosovo-Unabhängigkeit zu verbinden. Auf den Punkt gebracht: kein internationales Abkommen mit der EU, in dem nicht explizit stehen sollte, dass Kosovo ein Teil Serbiens sei.
Das Liebäugeln Koštunicas mit den Radikalen (SRS) hat schon seit langem den Charakter des reinen Taktisierens verloren. Nein, inzwischen bilden Koštunica und Nikolić im rechten Spektrum eine nationalistische Wertegemeinschaft, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Kosovo-Frustration ist. Es ist nun die Frage, ob diese Wertegemeinschaft nach den Wahlen in einer politischen Ehe mündet.
Neben dem Festhalten am Kosovo macht der Radikale Tomislav Nikolić, wie schon während der Präsidentschaftswahlen im Februar 2008, die sozialen Probleme zu seinen Wahlkampfthemen: Korruption, Arbeitslosigkeit, das marode Gesundheitswesen und der soziale Abstieg weiter Teile der Bevölkerung. Präsident Tadić und seine Demokratischen Partei (DS) sind als knappe Sieger bei den Präsidentschaftswahlen in eben diesen Bereichen relativ blass geblieben. Das große Versprechen der Tadić-Wahlkoalition heißt Europa. Ihre Gegner wiederholen unermüdlich, dass der Preis für das EU-Serbien das Kosovo sei. Die Serben bekommen dadurch vermittelt, dass sie auf diesem europäischen Wege auf ihre Identität, ihre Würde und auf 15 Prozent des Staatsterritoriums verzichten müssen. Der stattdessen versprochene Fortschritt bleibt für viele abstrakt. Nicht nur die serbische Gesellschaft ist politisch und sozial tief gespalten. Auch auf der individuellen Ebene finden Bürgerinnen und Bürger kaum eine klare Antwort auf das von der Politelite suggerierte Dilemma "Herz oder Verstand"? Diese Ambivalenz der Wähler könnte eine Chance für die Demokraten sein – oder ihr Verhängnis, denn seit Jahrzehnten erneuert sich der serbische Nationalismus aus dem Opfermythos, dessen zweiter Name das Kosovo ist.
Das heißt: Der derzeitige Ministerpräsident Koštunica wird voraussichtlich wieder die Mehrheiten bei der Regierungsbildung bestimmen. Bereits jetzt kann er mit allen, von den konservativen serbischen Analytikern euphemistisch als „Souveränisten“ bezeichneten, nationalistischen Gegnern der Kosovo-Unabhängigkeit eine stabile Mehrheit bilden.
In Serbien wird es diesmal keine saubere Lösung geben
Wie kann Tadić das verhindern? Im besten Fall kann er den Status Quo beibehalten. Nur wenn er die Kernbotschaft seines Wahlkampfs (Europa) aufweicht, kann er mit Koštunica wieder regieren. Theoretisch wäre sogar eine Regierung mit Beteiligung der menschenrechtsbetonten und radikal-pro-europäischen Liberal-demokratischen Partei (LDP) und der Minderheitenparteien denkbar. Die Chemie zwischen Tadić und dem LDP Chef Jovanović stimmt aber nicht. Jovanović war in der Djindic-Regierung und in der Demokratischen Partei eine wichtigere Figur als Tadić. Selbst wenn persönliche Eitelkeiten sich überraschend als überwindbar herausstellen sollten – mathematisch würde die Kombination noch nicht ausreichen.
Tadićs Block müsste sich zusätzlich zum Beispiel von den Sozialisten dulden lassen. Koštunica oder Sozialisten – das wäre für Tadić die Wahl zwischen Pest und Cholera, um danach mit einer knappen Mehrheit zu regieren. Kontraproduktiv und politisch unkorrekt wären alle diese Lösungen. General Mladic fände kaum den Weg nach Den Haag und das Problem Belgrad-Prishtina wäre nur schwer lösbar. In Serbien wird es diesmal keine saubere Lösung geben.
Ist für Tadićs Partei der Platz auf der Oppositionsbank eine realistische Alternative? Hat er einen Plan B – etwa die Machtübername der nationalistischen EU-Skeptiker vorübergehend über Serbien ergehen lassen, bis sich ihre populistischen Versprechen als Attrappe entpuppen?
Zwei Gründe sprechen dagegen: Die Regierungsbeteiligung bedeutet in Serbien nicht nur eine kaum kontrollierbare Machtausübung, sondern auch den Zugang zu überaus attraktiven Posten, Budgets sowie die Nähe zu den zahlungsfähigen Oligarchen. Die Antikorruptionssprüche der Radikalen zeigen ganz offen ihre Absicht, nach ihrem Wahlsieg den Zugang der Demokratischen Partei zu diesen Ressourcen zu versperren. Da verbleibt man lieber auch mit diesem oder jenem Teufel in der Koalition.
Darüber hinaus entstünde bei einer Kohabitation des pro-europäischen Präsidenten und einer entschieden nationalistischen Regierung eine gefährliche machtpolitische Schieflage, denn das Präsidentenamt in Serbien ist in seiner Macht begrenzt – die Exekutive hat das Sagen. Sie könnte sogar den Präsidenten – wie von seinen politischen Gegnern im Wahlkampf angekündigt – völlig entmachten oder zum Rücktritt zwingen.
Einen solchen politischen GAU kann Tadić nicht mehr allein verhindern. Die richtungsweisende Entscheidung wird wahrscheinlich - wieder einmal - sein ehemaliger Partner und jetziger, unerbittlicher Gegner Koštunica treffen dürfen.
Pressestimmen:
Dragoslav Dedović im Tagespiegel vom 07.05.2008: Serbien streitet über Europa.